Trotz der weit fortgeschrittenen und anhaltenden Digitalisierung behalten doch einige „Dinge“ ihre Bedeutung. Plattenspieler und auch die gute alte Schallplatte erleben derzeit sogar eine Renaissance. Immer noch geht von drehenden Tellern, zarten Abtastnadeln und feinen Platten-Rillen eine starke Faszination aus. Für viele von uns verbinden sich mit Schallplatten persönliche Musikerfahrungen.
Heute ist es möglich, Musik auf vielfältige Weise zu erleben. Vor allem natürlich im Konzert. Man kann sie aber auch streamen, im Radio hören, von ausgeleierten Kassetten, auf CDs oder von knisternden Platten. Gut lässt sich auch alles kombinieren, jeweils für den passenden Moment. Man kann sich entscheiden. Für die meisten wird die musikalische Zukunft digital sein. Der Ton löst sich nach und nach von seinem physikalischen Träger. Aber es gibt auch „objektorientierte“ Menschen, die Platten lieben und die sinnliche Erfahrung, eine Platte aus dem Cover zu ziehen und aufzulegen. Zu jeder Platte gibt es einen persönlichen Bezug. Vinyl ist ein Gegenentwurf zum modernen, effektiven Zeitgeist und erlebt gerade wieder einen Aufschwung. In Göttingen und Umgebung ist das Vinyl-Reservat der Ort für Schallplatten. Inhaber und kreativer Vinyl-Experte ist Hans Philip Schubring.
Musik war für Hans Philipp Schubring schon immer wichtig. Im Wendland in Lüchow aufgewachsen und zur Schule gegangen, hat er als Jugendlicher Gorleben, die Atommülltransporte und die Proteste dagegen erlebt. Das ging auch mit Musik einher. 1999 ging er für ein Jura-Studium nach Göttingen. Schon bald bekam er es hier mit Schallplatten zu tun beim Verkauf auf Flohmärkten und bei der Arbeit in einem Antiquariat, in dem er sich um Schallplatten kümmerte. In Göttingen machte er in Jam Sessions auch weiter selbst Musik, hatte er doch 10 Jahre klassisch Violine gelernt und in einem Symphonieorchester gespielt. Inzwischen ist Göttingen für ihn und seine Familie Heimat geworden.

Klaus Hoheisel hat Hans Philipp Schubring im Vinyl Reservat für das kulturis-Magazin besucht und dort interviewt.
Wie ist es zum Vinyl-Reservat gekommen?
2009 starb ein Freund und ich übernahm seine Sammlung, circa 3000 LP. Der Grundstock für den ersten Laden. Zu der Zeit studierte ich noch, hatte die Zwischenprüfungen fertig, die Schwerpunktbereiche abgeschlossen und machte das Repetitorium. Zusammen mit einem Bekannten habe ich damals am 01.12.2009 das Vinyl-Reservat "Am Papendiek" eröffnet. Wir beide hatte schon einige Erfahrung mit dem Handel von Schallplatten auf Börsen und Flohmärkten gesammelt. Zu dieser Zeit gab es keinen Schallplattenladen mehr in Göttingen, zumindest keinen, der ausschließlich Schallplatten handelte. Der Laden war sehr klein, etwa 30 qm Fläche. Aber es gab und gibt eine kleine und treue Vinyl-Fan-Gemeinde in Göttingen und darüber hinaus. Und ich habe gemerkt, dass mir der Handel mit Vinyl mehr Spaß macht, als ein Job im Jura Bereich es je könnte. Denn hier kann ich die ganze Zeit Musik hören und mich eingehend mit ihr beschäftigen und neue Sachen kennenlernen. Und dabei diese Passion mit anderen teilen und ihnen eine Freude damit machen.
Wie baut man einen solchen Laden auf? Gibt es besondere Interessen, Schwerpunkte und Vorlieben und was sind deine eigenen prägenden Hörerfahrungen?
Die war vor allem Klassik. Meine Jugend habe ich in den 90er Jahren erlebt, Bands wie Nirvana, Offspring, Greenday fanden sich neben Nigel Kennedy in meinem kleinen CD-Bestand. Irgendwann Ende der 90er fing es dann mit Schallplatten an. Anfangs hörte ich vor allem das, was man viel auf dem Flohmarkt findet, was sich gut verkauft hat und daher leicht verfügbar war. Das fing an mit Bands wie Dire Straits, Talking Heads, den Doors und The Cure. Hinzu kam Krautrock mit Bands wie Embryo, Guru Guru oder "Die Grüne Reise" von Achim Reichel, aber auch Crass (anarcho-punk band aus UK) und Chumbawamba öffneten mir die Ohren für vieles andere. Über Jazz und Fusion mit Bands wie Return to Forever oder Tower of Power kam ich zu den großen deutschen Jazz Labels ECM und MPS und beschäftigte mich mit deren Künstlern eingehend. Dann kam der progressive Rock, vor allem aus UK mit Bands wie Nucleus, May Blitz und natürlich King Crimson. Bands wie Patto oder Demon Fuzz finden auch heute noch oft den Weg auf den Plattenteller.
Es gibt wohl nur wenige Plattenläden, die ein so breites Angebot an Musikrichtungen haben wie das Vinyl-Reservat. Wie kommt das?
Mein Angebot reicht von der Rock/Pop Musik der 60er Jahre mit Beat, Psychedelic und Mod über die 70er Jahre mit Classic Rock, Glam oder Krautrock bis zu den 80er Jahren. Natürlich haben wir auch 90er, 00er und neuere Vinyl da. In den letzten Jahren konnte ich einige Bestände von Plattenläden erwerben, da habe ich viel Neuware mit gekauft. Es gibt eine große Abteilung mit Modern Jazz, Bob, Hardbop, Cool Jazz, Free Jazz, Fusion oder Spiritual Jazz. Das reicht von der raren Blue Note Original Pressung bis zur remasterten Neuauflage. Daneben haben wir eine große Auswahl Punk, Hardcore, EMO, Metal in all seinen Spielarten, Folk, Blues, Country, Reggae, Dub, viel afrikanische Musik, eine große Klassikabteilung, HipHop, Funk, Soul und Disco. Hinzu kommt mittlerweile in einem Außenlager auch viel elektronische Musik, die aus Platzgründen nicht im Laden präsentiert werden kann.

Das Musikangebot im Vinyl Reservat ist breit: von Rock/Pop über diverse Jazz-Gattungen, HipHop, afrikanischer Musik bis hin zu Punk und Hardcore.
Wie kommen die Platten zu dir?
Spätestens seit ich Laden an dem neuen dritten Standort in der Roten Straße habe, versuche ich insbesondere große Sammlungen zu erwerben, von Menschen, deren Lebenswerk es war, diese zusammenzutragen. Es ist für mich jedes Mal spannend, in diese Sammlungen einzutauchen und zu entdecken, wie sie zusammengestellt sind. Und damit auch die Menschen, die dies getan haben, ein Stück kennenzulernen. Viele Leute bringen mir immer noch kleinere Plattensammlungen in den Laden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Leute haben noch Platten rumstehen und nutzen diese seit Jahren nicht mehr. Sie freuen sich dann, wenn den Tonträgern ein zweites Leben geschenkt wird - und oft sind die Leute überrascht, was sie noch für Ihre Sammlung bekommen können. Mittlerweile habe ich aber auch diverse Anzeigen laufen und schaue mich aktiv nach Sammlungen um. Viel läuft mittlerweile übers Internet. Und natürlich über den guten Ruf, den ich über Jahre hin aufbauen konnte. Ob nun Nachlass, Archiv oder Ladenauflösung. Dafür fahre ich mindestens zweimal im Monat auch weite Strecken durch ganz Deutschland. Viele Sammlungen finde ich im Süddeutschen Raum oder im Ruhrgebiet. Dabei richte ich mich immer nach den Wünschen der Kunden. Ich kaufe meist komplett - aber auch rare Einzelstücke.
Gibt es interessante Geschichten zur Übernahme von Komplett-Sammlungen?
Vor einigen Jahren konnte ich etwa 5000 Blues Platten kaufen. Das war eine unglaubliche Sammlung, von der ich lange gezehrt habe. Dabei war viel Country Blues, z.B. auch einige sehr rare Stücke auf Prestige, Blue Horizon oder dem alten „Black“ Chess Label. Vor 3 Jahren habe ich einen Bestand einer Radio Station in Polokwane im Norden von Südafrika gekauft, etwa 6000 LP. Das war ein unglaublicher Trip mit sehr eindrücklichen Erfahrungen. Viele der jungen Leute dort hatten noch niemals einen Weißen gesehen. Vor etwa 2 Jahren habe ich eine große Jazz Sammlung mit hunderten originalen Blue Note und Prestige LP gekauft. Im Oktober letzten Jahres habe ich einen kompletten Bestand von einem Plattenladen übernommen, etwa 17.000 LPs. Dabei war auch viel Neuware, sehr viel Punk und Hardcore. Dann war letztes Jahr noch ein sehr spannender Ankauf mit etwa 6000 Vinyl mit frühen „Elektro/HipHop 12" sowie viel elektronischer Musik. Da kannte ich sehr viele Sachen noch nicht und sowas ist dann immer besonders spannend, sich da durchzuhören.
Vor rund 10 Jahre habe ich die umfangreiche tolle Folk-Sammlung von Carsten Linde bekommen, insbesondere was den UK/Irish Folk und US Folk Bereich angeht, einige 1000 Stück, eine unvergleichliche Sammlung mit vielen Klassikern in diesen Bereichen – die auch gezeigt hat, was hier in Göttingen in dem Genre mal los war. Ich habe vieles davon gehört und mir ein profundes Wissen in dem Bereich angeeignet. Viele der Platten gingen spannenderweise tatsächlich in die Länder zurück, in denen sie herausgekommen waren.
Immer wieder ist es auch spannend, die Leute hinter den Sammlungen und ihre Lebensumstände kennenzulernen. Ich komme ja in viele Wohnungen rein, treffe Menschen, zu denen ich sonst keine Berührungspunkte hätte“.
Bietest du nur die im Laden verfügbaren LPs an?
„Wir verkaufen auch online bei „discogs“. Börsen und Flohmärkte mache ich nur noch sehr selten. Sachen zu haben, die es sonst nirgendwo gibt, ist für mich immer noch attraktiver, als den Mainstream anzubieten, den man überall bekommt. Sonst haben ja alle die gleichen Möglichkeiten wie ich; mein erster Blick geht auch immer zu „disocgs“ – das ist einfach die Plattform für die Kenner. Letztendlich macht den Charme eines Plattenladens ja das Stöbern aus. Sich zum Beispiel von einem Cover ansprechen zu lassen, oder eine Platte vom Teller weg zu verkaufen – oder eben auch eine gute Beratung, die dann zum Kauf führt. Es ist gerne gesehen, wenn in die Tonträger reingehört wird.“

2015 zog das Vinyl Reservat in die Rote Straße in die Göttinger Fusgängerzone. In dem Laden Veranstaltet Inhaber Schubring auch regelmäßig Konzerte.
Wie bis du zu deiner heutigen Vorliebe für afrikanische Musik gekommen, seit wann beschäftigst du dich eingehend damit?
„Etwa 2014 habe ich EBO TAYLOR (Ghana) auf dem Fusion Festival zum ersten Mal gesehen. Dies war für mich eine prägende Erfahrung. Ich beschäftigte mich in den folgenden Jahren eingehend mit afrikanischer Musik. Die ist so vielfältig, und damals und auch teils heute noch wenig bekannt, obwohl der Kontinent uns doch so nah liegt. Anfangs beschäftigte ich mich vor allem mit der Musik aus Ghana der 60 - 80er Jahre, Highlife und Soukous. Später kam dann Benin (allen voran Orchestre Poly-Rythmo) und natürlich Nigeria an die Reihe. Diese Länder hatten eine sehr lebendige und eng vernetzte Musikszene zu der Zeit. Afrobeat und Boogie waren groß im Nigeria der 70er und 80er Jahre, aber niemals so populär wie Highlife. Compilations vom preisgekrönten ANALOG AFRIKA Label aus Frankfurt waren für mich immer Türöffner für Musik, so z.B. die "Space Echo" über die Funana Musik aus Capo Verde oder die "Senegal 70" mit Bands wie Orchestre Baobab.“
Gibt es weitere Angebote im Laden (CD, Bücher ...)?
Etwa seit der Corona Zeit biete ich auch CDs an. Im Lager haben wir zurzeit etwa 7500 CDs, die man bei „disogs“ findet und die dann auch im Laden erhältlich sind. Eine kleine Auswahl an Musik-Büchern gibt es auch. Darüber hinaus bieten wir immer gute und teils hochwertige Plattenspieler an.“
Immer wieder gibt es auch Live-Musik bei dir...
„Konzerte gab es schon im ersten Laden und später auch musikhistorische Vorträge, vor allem im Blues-Bereich. Schon seit dem ersten Jahr gab es eine jährliche Jubiläumsfeier. Die fand z.B. schon in der musa, im JT, im Stilbruch oder im Vinyl-Reservat selbst statt. Seit etwa 10 Jahren ist der Laden in der Roten Straße auch offiziell genehmigte Veranstaltungsstätte. Weit über 450 Konzerte habe ich alleine in den letzten Jahren veranstaltet. Das ging von Doom/Stoner Rock Konzerten über Blues bis hin zu afrikanischer Musik, Hip Hop, Folk oder Jazz. Seit etwa 10 Jahren findet auch der HipHop Stammtisch regelmäßig im Vinyl Reservat statt. Bei den Bands handelt es sich gerne auch um Projekte aus Göttingen oder dem Umland, vielfach aber um international erfahrene Bands. Viele Bands schätzen die besondere Atmosphäre des Plattenladens. Und das hat sich rumgesprochen. Es sind viel mehr Anfragen, als ich annehmen kann. Das Vinyl-Reservat ist eine der zentralsten und aktivsten Live Spielstätten in Göttingen.“

Das Good Good Festival mit einer Vielzahl afrikanischer Bands findet am 4.+5. Juli 2025 an meheren Orten in der Göttinger Innenstadt statt.
Seit einigen Jahren organisierst du auch Festivals mit afrikanischer Musik.
„Ich hatte jedes Jahr bereits eine Jubiläumsparty gemacht, teils auch mit Bands. 2022 nach Corona wollte ich dann erstmals den Versuch wagen, ein Festival draußen und natürlich im Sommer zu veranstalten. Das „Good Good Festival“ war geboren! Das Lineup mit afrikanischen Bands auf dem Parkplatz am Jahnstadion war außergewöhnlich und aufregend. Über zwei Tage wurde ein wunderbares Programm gefeiert. Mit insgesamt etwa 450 Gästen war die Resonanz leider nicht wie erhofft. Sicherlich war das Festival unmittelbar nach Corona auch noch für viele etwas ungewohnt. Im Folgejahr hatte ich eine wesentlich kleinere Version im Alten Rathaus, im „dots“ und im Vinyl Reservat durchgeführt. 2024 habe ich den Schritt gewagt und das Festival auf den Albaniplatz gebracht. Als weitere Spielstätten waren das „dots“, der Nörgelbuff sowie das Alte Rathaus dabei. Das Konzept der fußläufig erreichbaren Spielstätten ging sehr gut auf. So eine anregende Veranstaltung hatte die Stadt meiner Meinung nach schon lange nicht mehr gesehen.“
Das nächste „Good Good Festival“ steht am 4. und 5. Juli bevor. Was gibt es dazu zu sagen?
„Die Spielstätten sind weiter gewachsen. Der Albaniplatz wird der zentrale Platz für das Festival. Neu dabei ist das Deutsche Theater, wo das Abschlusskonzert mit dem Kwaito Künstler Sandy B stattfinden wird. Mit Eric Bibb habe ich einen sehr bekannten und mehrfach ausgezeichneten Blues Musiker gewinnen können. Dub Princess & The Hotsteppas sind ein tolles Reggae Projekt. Mandé Sila (mit Habib Koité) wird im Alten Rathaus spielen. Es gibt ein Rahmenprogramm mit Diskussionen, Vorträgen und Vorstellung von Instrumenten. Das abwechslungsreiche Angebot mit Schwerpunkt auf vielfältigen afrikanischen Projekten soll anregen, Neues kennenzulernen. Das „Good Good Festival“ soll ein Platz der Begegnung sein, aber auch zum Feiern!“
Wie wird es mit dem Vinyl-Reservat weitergehen, gibt es neue Planungen?
„Der Laden ist auf einem guten Weg. Gut gelagerte Schallplatten dürften einige hundert Jahre oder länger überdauern. Grade sehr gut erhaltene Vinyl werden immer seltener werden. Natürlich ist das eine Generationenfrage. Die Vinyl sind ja da. Irgendeinen Umgang findet die nächste Generation damit. Generell wird gute Musik ja nicht schlecht. Es gibt Meilensteine in der Musikentwicklung, wie das erste King Crimson Album, Black Sabbath oder die "Pet Sounds" von den Beach Boys, die wird man auch in 100 Jahren noch kennen.
Das Angebot soll weiterhin gut gepflegt und selbstverständlich stetig erweitert und erneuert werden. Da gibt es immer was zu verbessern. Kaum ein Laden hat so einen Durchsatz, was die Attraktivität auch mit ausmacht. Die Konzerte sollen in Zukunft auch gefilmt werden. Erste Versuche dazu gab es. Ähnlich dem „Tiny Desk“ Format. Dies könnte auch für einige Bands interessant sein. Das hauseigene Label, das ja gerade auch lokale Künstler unterstützen sollte, könnte wieder reaktiviert werden.“
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Im Artikel genannt
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Vinyl Reservat
Klangkultur in Vinyl: Zeitlose Töne, für Liebhaber gemacht.
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