Die Freude als Kuss der Welt

Eröffnungskonzert der Stadthalle – ein Erlebnisbericht

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Am Samstag, den 27. Januar wurde die renovierte Stadthalle mit einem Konzert des Göttinger Symphonieorchesters unter Leitung Nicholas Miltons eingeweiht. Gespielt wird das Vorspiel zu Wagners »Lohengrin« und Beethovens 9. Symphonie, diese eingeleitet durch die Uraufführung des Orchesterstücks BLAP der in Basel lebenden, polnischen Komponistin Anna Sowa. Es singen die „Ode an die Freude“ im 4. Satz zudem die Chöre der Stadtkantorei Göttingen (Einstudierung Bernd Eberhardt) und St. Jacobi Kantorei (Stefan Kordes) sowie der Universitätschor Göttingen (Antonius Adamske) als ein großer Chor mit über 200 Menschen. Es wird also voll auf der Orchesterbühne. 

Voll ist auch die Garderobe der neuen Stadthalle, ein wenig chaotisch. Ein Besucher murmelt, dass es früher auch nichts gekostet hätte. Heute zahlt er dann trotzdem zwei Euro. Nach zwei Treppen erreiche ich den Rang. Das Orchester sitzt bereits in Position, dahinter ein leeres Podest Treppe. Der Chor wird die Bühne erst vor dem vierten Satz betreten. Der Elefant ist schon im Raum. Als ich mich setze, fällt mir direkt eine erfreuliche Neuerung auf: Die Balustrade wurde merklich in ihrer Höhe reduziert, sodass man vom Rang nun freie Sicht auf die Bühne hat. Eine sehr zufriedenstellende Verbesserung nach dem Umbau. Nicht überaus zufrieden dürfte das Orchester jedoch mit dem zuvor viel gepriesenen Akustiksegel sein, das bei Konzerten des Göttinger Symphonieorchesters eigentlich unter der Decke gespannt werden sollte. Es würde zum Freitag für den Neujahrsempfang abgenommen und konnte nicht rechtzeitig wieder angebracht werden.

Herzen mit Musik und Kunst öffnen

Das Konzert muss also ohne diese akustische Unterstützung auskommen. Stattdessen weist Oberbürgermeisterin Petra Broistedt auf die besondere Beleuchtung des großen Saals hin, die sich an jede Veranstaltung stimmungsvoll anpassen soll. Sie betont, dass die Stadthalle in Göttingen damit „Europas modernste Multifunktionshalle“ ist. Die schicken, lila sechziger Jahre Fliesen der Fassade kann man zudem gewinnen – vielmehr käuflich erwerben, denn sie ruft zur Spende auf. Die üppigsten Spenden werden mit einer Fliese belohnt, mit der man zum Beispiel sein „Badezimmer verschönern könnte“. An dieser Stelle kann das Publikum hörbare Erheiterung nicht verbergen. Für eine gut gelaunte Grundstimmung im Saal ist also gesorgt als Nicholas Milton das Mikrofon ergreift und sich und das Orchester mit ergreifenden Worten vorstellt. Er möchte Freude verbreiten, die „Herzen der Menschen in Göttingen und der Region“ mit Musik und Kunst öffnen. Ein Privileg und eine Ehre, die er mit Begeisterung und Liebe wahrnehme. Über zwanzig Konzerte in Niedersachsen habe das Göttinger Symphonieorchester bereits im neuen Jahr gespielt. Die CD-Aufnahme der vier Brahms-Symphonien, eingespielt bei Prospero, sei auf viel Anerkennung gestoßen. Von einer der modernsten Konzerthallen gehe es bald in eine der historisch bedeutendsten nach Amsterdam. Das Orchester ist also auch im Ausland erfolgreich. Beethovens Symphonie beschreibt er als Chaos, als Krieg, der durch die Freude und das Gemeinsame im 4. Satz überwunden wird. Eine Symphonie, die zeitlos ist, weil das Chaos überzeitlich ist und Angesicht der geopolitischen Lage gerade jetzt besonders aktuell erscheint. Dass es Nicholas Milton mit dieser Erklärung seines Schaffens ernst ist, wird in einem Gespräch mit den Chören nach dem Konzert bestätigt werden. Ein Chormitglied zeigt sich beeindruckt von der positiven Energie, die der Dirigent ausstrahlt: wie er bestimmt, präzise und menschlich freundlich dirigiert und organisiert und auch während der Generalprobe darauf verwiesen habe, dass das Schlechte durch die Freude hinfort getragen werden müsse. Die Freude als Kuss der Welt – als leidenschaftlicher Kuss. Viele, gerade die jungen Sänger:innen des Universitätschors, die Milton noch nicht „erlebt“ hatten, sind begeistert und schildern die Arbeit mit Nicholas Milton als Ereignis mit glänzenden Augen. Sein Dirigierstil und Ausdruck sei etwas Besonderes, betonen Xiomara, Leonie, Hannah (alle Alt) und Ingmar (Bass) vom Universitätschor.

Nach den schönen Worten des GSO-Chefdirigenten beginnt das Konzert mit dem Vorspiel des 3. Satzes aus Richard Wagners Oper Lohengrin. Wagner selbst hatte während seiner Zeit als Dirigent in Dresden die Aufführung Beethovens 9. Symphonie gegen alle Widerstände durchgesetzt und wurde durch diese, wie viele Komponisten der Romantik, in seinen jungen Jahren stark beeinflusst. Das Vorspiel unterstreicht an dieser Stelle den immensen Einfluss der Symphonie auf nachfolgende Künstler. 

Der Bogen zur Moderne erfolgt dann mit der Komposition BLAP der Komponistin Anna Sowa. BLAP ist ein Akronym für „Blue Large-Amplitude Pulsators“, einer neuen pulsationsveränderlichen Sternenklasse im Zentrum der Milchstraße, die 2017 von Wissenschaftler:innen von der Universität Warschau entdeckt wurden. Wie diese Sterne pulsiert das Stück rhythmisch. Puls und Rhythmus sind komplex und vielseitig, überlagern sich teilweise, gestrichene lange Streicherblöcke fehlen. Die Posaunen spielen weniger, als dass sie dem Stück über Luftstrom und Ansatz perkussive Elemente hinzufügen. Dennoch hat die Komponistin, die sich selbst als experimentell beschreibt – als Künstlerin die instrumentale und elektronische Musik miteinander verbinden möchte – auch melodisch-rhythmische Elemente Beethovens Neunter in ihre Komposition eingearbeitet, was mir und den Zuhörer:innen um mich herum zunächst nicht aufzufallen scheint, bis die Komposition plötzlich nahtlos in die ersten Töne Beethovens übergeht, die sich angenehm rhythmisch und harmonisch anschließen. Das funktioniert hervorragend, obgleich zwischen den Stücken charakteristische Welten liegen. Welten die in ihrer Unruhe ihre zeitliche Distanz zueinander überwinden. Der Komponistin und dem Orchester ist es gelungen, das Publikum zu überraschen. Der nahtlose Übergang und Einleitungscharakter, das Bindeglied Beethovens zur Moderne wird dann auch anregendes Gesprächsthema nach dem Konzert und wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.

Verstecktes Highlight

Der erste Satz der Symphonie folgt mit Ausdruck. In der Sonatenform stehen sich Hauptsatz und Nebensatz diametral gegenüber. Der Hauptsatz, mächtig und verstörend dringt von außen auf die Hörer:innen ein, im Seitensatz dominieren die Holzbläser mit ruhigerem Thema. Der von Nicholas Milton angesprochene Kontrast zeigt sich bereits in diesen Durchführungen und hinterlässt am Ende der langen Coda ein Gefühl von Trauer und Verlust.

Der zweite Satz ist für mich ein kleines verstecktes Highlight, bei allen Neuerungen und Brüchen die Beethovens letzte große Symphonie mit dem gängigen Musik-Mainstream ihrer Zeit vornimmt, ist sie vielleicht die häufig übersehene, jedoch mit ihrer Geschwindigkeit und Wucht überaus unterhaltsam. Wenn die Pauken mit dem Orchester im Scherzo kämpfen, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Mit meiner Meinung zum zweiten Satz stehe ich nicht allein: Jakob Diedrich ist als Zuschauer in der Stadthalle und studiert in Dieburg Sound- und Musikproduktion. Er hat die 9. Symphonie zum ersten Mal live gehört und ist mit hoher Erwartung in das Konzert gegangen und ist sehr zufrieden. Besonders gut fand auch er den 2. Satz – sein Highlight.

Der 3. Satz verdichtet dann die bedrückende Stimmung, ermüdet und ermattet lausche ich den Klängen und ihren arhythmischen Verschiebungen, geweckt durch die letzte Fanfare, die ankommende Verheißung, sehne ich mich nach der Erlösung im vierten Satz, die dann in besonderer Weise in Szene gesetzt wird.

Der Chor betritt die Bühne. ---- Von links in Reihen wird das zuvor leere Podest gefüllt. Schulter an Schulter stehen die Sänger:innen und ihr Strom scheint nicht abzureißen. Ob gewollt oder nicht, die Inszenierung des Chors glückt. Die Stimmung des Publikums verändert sich von Neugier der Erwartung zu Überraschung: Immer mehr Menschen betreten das Podium. Die drei Perkussionist:innen, die in BLAP spielten, räumen ihren Platz. An ihre Stelle treten Teile des Soprans und Alts. Die Überraschung des beeindruckten Publikums kippt nun in Heiterkeit, als noch eine Reihe an Sänger:innen aufmarschiert. Ein erstes lösendes Lachen, das der Symphonie nach dem bedrückenden dritten Satz gutsteht. Der Auftritt der Solist:innen gerät durch das stumme Spektakel des Chors ein wenig in den Hintergrund, doch auch Nika Gorič (Sopran), Ulrike Malotta (Alt), Sven Hjörleifsson (Tenor) und Stephan Klemm (Bass) betreten nun die Bühne und werden von Nicholas Milton begrüßt, der sich nun seinem um rund 200 Personen gewachsenen Musikapparat zuwendet. Das Publikum verstummt und es beginnt die „Ode an die Freude“.

Langer Applaus und Bravorufe

Dissonant. Wütend. Schmerzlich starten die Bläser und nehmen die Stimmung der vorherigen Sätze auf. Die Bässe leiten zaghaft einen neuen Gedanken ein, werden doch sogleich durch die disturben Themen der vorherigen Sätze unterbrochen. Die Bässe spielen weiterhin gegen die alten Motive – Rebellion im Bass. Da! – Die Holzbläser finden einen neuen Gedanken, die Bässe stimmen zu und hören auf, gegen das Orchester anzuspielen, leiten nun zur Freudenmelodie. Immer mehr Instrumente stimmen ein in dieses neue Motiv. Lauter. Heller. Die Umarmung der Welt – und fallen zurück, versinken endgültig im Chaos und Donnergrollen der Pauken. 

Das Baritonsolo ruft zur Ordnung: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.“ Der Bass wirft das erste „Freude“ in das Freudenthema des Baritons. Das sitzt schonmal. Die Proben haben sich gelohnt.

Nach den fugischen Einsätzen der Chorstimmen und den Variationen des Freudenthemas kommt es zum ersten Finale. Der Chor ist laut und mächtig, aber ein bisschen Klang scheint der Saal oder vielmehr der hintere Teil der Bühne doch zu schlucken. Es wäre interessant gewesen, welchen Unterschied das abgebaute Akustiksegel gemacht hätte. 

Im Andante Maestoso wirken die Stimmen dann sehr gut. Die Männerstimmen brachial dunkel, die Frauenstimmen schweben ätherisch. Die Akustik der Halle ist in dieser mehrstimmigen Passage auch ohne Segel außerordentlich und mit steigendem Tempo zum Maestoso bleiben die Klänge klar und breit. Ruhe – das Thema des ersten Satzes versucht nochmal das alte „Schlechte“ in die Köpfe der Konzertbesucher zu bekommen, doch es ist zu spät: „Freude, schöner Götterfunken“ – der letzte Gedanke in voller Lautstärke, atemberaubend, das Sakrale geht in Jubel auf – und tosender Applaus. 

Das Publikum ist euphorisch. Standing-Ovations in allen Rängen und im Parkett. Langer Applaus und Bravorufe. Die Göttinger:innen sind sehr zufrieden mit ihrer neuen Stadthalle und versorgen sich an der Bar mit Sekt und Orangensaft. Ein dichtes Gedränge, Publikum und Musiker:innen vermischen sich. Jung und Alt. Man kennt sich. Auch das ist Göttingen, eine kleine Stadt in der jeder und jede erreichbar, nahbar scheint. An der Bar lerne ich mitten im Gedränge und vorsichtigem Geschubse Christa kennen. Sie singt Alt im St. Jacobi-Chor, ihr habe der Auftritt enorm Spaß gemacht: „Der Adrenalinschub hat nochmal den letzten Kick beim Konzert im Gegensatz zur Generalprobe gegeben“. Sie betont, wie schön es für sie gewesen sei, insbesondere mit so vielen jungen kräftigen Stimmen zusammen zu singen. Bei diesem Mammutchorprojekt arbeiten Jugend und Erfahrung Hand in Hand und erschaffen für sich und andere erinnerungswürdige Momente der Wärme, Freude und Dankbarkeit. Das ist Musik, das vermag Kunst zu vollbringen, Nicholas Milton wird mit diesem Ausgang zufrieden sein. Und Göttingen hat wieder einen Ort, der für solche Zusammenkünfte gemacht ist. Die Eröffnung war erfolgreich, jetzt gilt es, weitere wundervolle Abende für die Göttinger:innen zu veranstalten.

Das Kulturbüro Göttingen wird auch dann mit Freude und Neugier berichten.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Autor:in

Niklas Foitzik

Journalist und Autor beim Kulturbüro Göttingen

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