Vielstimmige Leseerfahrungen

Anne Rabe: »Die Möglichkeit vom Glück«

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In dem Roman »Die Möglichkeit vom Glück« beschreibt die Autorin eine das Leben von Stine, geboren 1986 in einer Stadt, die zum Beispiel Wismar sein könnte. Dort ist Anne Rabe 1986 geboren. Stine erlebt viel Gewalt in ihrem Leben. So viel, dass sie auch an sich selbst Gewalt ausübt. Anne Rabe erzählt von dieser Gewalt. Sie erzählt vom Privatleben in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wende. Sie erzählt von Stines Jugend und von Stines Großvater. Sie erzählt von der Gewalt in der Familie und von der des Staates.

Im Gespräch mit Daniel Frisch (ebenfalls ein Kind aus dieser Zeit, er stammt aus Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz) sagt sie, es sei völlig irrelevant, wie viel Autobiographisches in dem Buch steckt. Und damit hat sie natürlich recht. Anne Rabe gibt dem Privatleben aus dieser Zeit einen Raum, den es bisher noch nicht gab. Sie beschreibt nach ihren eigenen Erlebnissen aber auch nach vielen Recherchen eine Welt, in der die persönliche Familiengeschichte ihrer Protagonistin mit der Geschichte der untergegangenen DDR verknüpft wird.

Anne Rabe liest ihre Texte mit ruhiger Stimme und eher sachlichem Ton. Man kann das Buch auch anders lesen. Wichtig ist aber, dass Rabe die Geschehnisse nicht verurteilt. Das überlässt sie den Leser:innen und Lesern – wie auch an diesem Abend den Besucher:innen im ausverkauften Literaturhaus. Ausführlich geht sie auf die Fragen ein. Auf die ihres Gesprächspartners (der schmunzelnd äußert „Ich bin nur deswegen als Gesprächspartner eingeladen, weil ich eine ähnliche Biografie habe“) und auf die Fragen aus dem Publikum.

Richtiger Ton zur passenden Zeit

Es ist faszinierend wie schnell deutlich wird, dass Anne Rabe kein Sachbuch geschrieben hat. „Ich bin keine Chronistin“, sagt sie energisch. Vielmehr gibt die Autorin der Erzählerin Stine und damit einer ganzen Generation eine Stimme, die hier ihre DDR- und Nachwendegeschichte aufarbeitet. Wie wichtig das ist, wird im Gespräch mit Daniel Frisch schnell deutlich: „Die DDR kam nicht vor im Geschichtsunterricht“, erzählt Anne Rabe aus ihrer Schulzeit. „Die Erwachsenen hatten nicht den Blick dafür, wie ihre Kinder aufwachsen.“ Dadurch sei eine „literarische Leerstelle“ entstanden, diagnostiziert Frisch.

Der Zuspruch nicht nur beim Eröffnungsabend der Göttinger Frühjahrslese, sondern bei allen Terminen der Lesereise zeigt, wie aktuell das Thema ist und wie gut Anne Rabe den Ton trifft. Und das gleichermaßen in Ost- wie in Westdeutschland.

Der Steidl-Lektor Daniel Frisch resümiert: »Die Möglichkeit vom Glück« sei ein vielstimmiges Buch. Das wird auch im Gespräch mit dem Publikum nach der Lesung deutlich. Viele haben das Buch bereits gelesen – und dabei sehr vielstimmige Leseerfahrungen gemacht.

Kulturbüro

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.

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