Was einst als zierlicher Setzling begann, hat sich zu einem ansehnlichen Baum mit vielen Ästen entwickelt: Mit weniger als zehn Autoren hat Christoph Reisner (†2014) den Göttinger Literaturherbst 1992 ins Leben gerufen. In diesem Jahr, 2025, präsentieren sich an die 100 Künstler bei etwa 80 Veranstaltungen, allein in den ersten 14 Tagen sind 10.000 Tickets weggegangen.
Als Versuch die Gegenwartsliteratur darzustellen, beschreibt Maria Paula Jähde (Presse und Öffentlichkeitsarbeit vom Literaturherbst) das große Literaturfestival. Jedes Jahr wird der Göttinger Literaturherbst im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse ausgerichtet und hat sich vom Rein-Göttinger Event zu einem internationalen Festival mit Namen wie Douglas Adams, Ben Elton und Michael Palin von „Monty Python's Flying Circus“ entwickelt, attraktiv für Besucher nicht nur aus der Region, aber auch für die Autoren. So hat Max Goldt den ersten Literaturherbst eröffnet, in diesem Jahr wird er zum zwölften Mal dabei sein (24.10., 21 Uhr, Altes Rathaus). Von ihm stammt auch das erste Autogramm, das jetzt das Büro des Festivals im Göttinger Kulturhaus ziert. In den Anfangsjahren des Festivals sei Sibylle Berg mehrfach nach Göttingen gekommen, so Jähde. Nach einer zwischenzeitlichen Pause sei sie jetzt wieder mit von der Partie (31.10., 17 Uhr, Sheddachhalle).
Das Team des Göttinger Literaturherbstes (v.l.: Rebecca Claßen, Gesa Husemann, Johannes-Peter Herberhold, Maria von Estorff, Maya Waßmann und Maria Jähde)
Gut zwei Jahrzehnte nach dem Start sind laut Jähde rund 30 Literaturschaffende zum Literaturherbst in die Leinestadt gekommen. Die Geschäftsführung hat in dieser Zeit Johannes-Peter Herberhold übernommen. 2019 hätten schon 60 Schreibende beim Göttinger Literaturherbst gelesen, in diesem Jahr sind es wie gesagt um die 100.
Bei der Programmplanung hat Gesa Husemann den Hut auf. Programmarbeit bedeutet für sie Interaktion. „Ein Programm entsteht nicht in der Einzelkammer, sondern im Dialog mit sehr vielen unterschiedlichen Personen.“ Dabei spielten die Kooperationspartner genauso wie die Vertrauenspersonen in den Verlagen eine große Rolle, aber auch zufällige Begegnungen und Erlebnisse könnten Einfluss auf die Programmplanung bekommen. „Am Ende muss ein vielfältiges, ausgewogenes Programm stehen, das unterschiedlichste Zielgruppen anspricht.“ Zentrale Fragen sind in Husemanns Worten stets: „Was beschäftigt die Menschen, was sind die Themen unserer Zeit? Wie wird das vom Buchmarkt abgebildet? Wer sind die neuen Stimmen? Was schreiben die Etablierteren?“ Wichtig für die „Stadt, die Wissen schafft“ ist selbstredend die Wissenschaftsreihe, die 2007 an den Start ging und in der oft Nobelpreisträger live zu Wort kommen, in diesem Jahr ist es die ungarisch-US-amerikanische Biochemikerin Katalin Karikó, die den Nobelpreis für Medizin 2023 für ihre Entdeckungen erhielt, die die Entwicklung wirksamer Impfstoffe gegen COVID-19 möglich machten. (31.10., 19 Uhr, Paulinerkirche).
Gabriele von Arnim und Moshtari Hilal im Jahr 2023 im Alten Rathaus Göttingen
Jähde versteht den Literaturherbst unter anderem als Anregung, öfter zu einem Buch zu greifen. Unlängst habe es wieder die Schlagzeilen gegeben, dass die Menschen immer weniger läsen. Oft tauchten im Programm Namen auf, die auch sie noch nicht gehört habe, gibt Jähde offen zu und fasst damit die große Bandbreite der langen Liste von Veranstaltungen in Worte. Was für sie von entscheidender Bedeutung ist: Das Kulturfestival sei ein wichtiger Teil der Mission für Demokratie.
Sie erzählt, dass es viele überrasche, dass die Arbeit am nächsten Festival schon kurz nach Ende des vergangenen beginne. Für manche Lesung gebe es noch längeren Vorlauf. Ab Anfang des Jahres starte die Planung mit dem sechsköpfigen Team. In der heißen Phase von August bis Oktober kommen zwei Praktikanten hinzu, um die gut eingespielte Crew zu unterstützen.
Immer wieder kämen neue Orte hinzu, freut sich Jähde. Seit der 23. Festival-Auflage werden auch Spielorte außerhalb der Göttinger Stadtgrenzen aufgenommen. So wurde 2014 unter anderem im Grenzlandmuseum Teistungen und im historischen Rathaus von Duderstadt gelesen. Weitere Veranstaltungsorte entstanden in Bovenden, Alfeld, Gleichen, Nörten-Hardenberg, Hann. Münden und in vielen anderen Orten. Im vergangenen Jahr sei zum ersten Mal ein Event in Heiligenstadt ausgerichtet worden, erzählt Jähde.
Am schönsten sei es, wenn es gelinge, den Ort zur Kulisse für die Lesung zu machen. Noch immer erinnert sich Maria von Estorf aus dem Organisationsteam gern daran, wie sie vor vier Jahren das passende Ambiente zu Ulrike Dotzers Roman „Goldener Boden“ fand. In dem Buch arbeiten drei Generationen einer Familie als Friseure. Ein Friseursalon in Schoningen bei Uslar entpuppte sich als das passende Ambiente für die Lesung. Als ein Highlight ist auch die Lesung von Benno Fürmann aus Volker Kutschers „Der nasse Fisch“ im Kopf geblieben. Konzipiert vom engagierten Team des Literaturherbsts wurde der Abend vom Moka Efti Orchestra begleitet. Die Veranstaltung sei so erfolgreich gewesen, dass „unser Konzept ,made in Göttingen‘“, so Jähde, durch ausverkaufte Großhallen in ganz Deutschland getourt sei.
Der Literaturherbst lebt von verschiedenen Formaten. Nicht immer gibt es nur eine Person bei der klassischen Wasserglas-Lesung, schildert Jähde. Da die Autoren nicht immer die besten Leser seien, sei manchmal sogar ein Synchronsprecher wie der bekannte Dietmar Wunder dabei. Allerdings habe es auch Charme, wenn derjenige lese, der sein Herzblut in die Arbeit an dem Buch gesteckt habe.
Wie beim langen Abend der jungen Literatur treffe das Publikum an einem Abend zuweilen auf zwei oder auf drei Autoren, die auch miteinander ins Gespräch kommen sollen. Hier liest die Deutsche-Buchpreis-Shortlist-Kandidatin Dorothee Elmiger mit Nora Osagiobare und Anne Sauer im Literaturhaus (29.10., 19 Uhr).
Im literarischen Zentrum würden viele Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Nach dem großen Erfolg im vergangenen Jahr wird die musikalische Lesung zu „Emil und die Detektive“ mit Richie Müller und dem Göttinger Symphonieorchester wieder zweimal aufgeführt (6.11. Ballhaus Duderstadt, 7.11. Stadthalle Northeim, jeweils 19 Uhr). Zum ersten Mal kommt mit Claudia Michelsen und dem Göttinger Barockorchester ein Kunstwerk aus Oper und Sprechspiel auf die Bühne. (26.10., 19 Uhr, Sartorius Quartier).
Caroline Wahl bei der Frühjahrslese 2025 des Göttinger Literaturherbsts
Dass der Literaturherbst Autoren auf ihrem Werdegang begleitet, zeigt das Beispiel von Caroline Wahl. Aus ihrem Debut „22 Bahnen“ hat sie in der KWS Einbeck gelesen. Mit „Windstärke 17“ zog sie bei der Frühjahrslese (vom Literaturherbst) in diesem Jahr in die Sheddachhhalle ein. Ihren neuen Roman „Die Assistentin“ stellt sie am 25.10. gleich zweimal, um 16 Uhr und um 19 Uhr, dort vor. Im Biotechnikum der KWS Einbeck liest in diesem Jahr Lena Schätte aus „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ (31.10., 19 Uhr) – sie steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.
Auch Auszeichnungen wird es beim Festival geben. Gleich zwei Preise werden am 6. November auf dem Sartorius Campus verliehen. Mit dem NDR-Sachbuchpreis wird das beste deutschsprachige Sachbuch des Jahres 2025 ausgezeichnet. Der Sartorius-Preis für neue Kommunikation „LifeScienceXplained“ will herausragende, kreative und innovative Kommunikation zum Thema Lebenswissenschaften küren. Gleich zweimal wird der Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2025 am Samstag, 15. November, im Deutschen Theater verliehen - an den deutschen Literaten Daniel Kehlmann und den polnischen Schriftsteller Jacik Dehnel.
Thomas Hitzlsperger und Moderator Thomas Kopietz beim Göttinger Literaturherbst 2024
Seit 2014 präsentiert der Göttinger Literaturherbst den Gewinner des Deutschen Buchpreises, der bei der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet wird (18.10., 21 Uhr Altes Rathaus, Göttingen). Die erste Lesung nach der Preisvergabe wird in Göttingen gehalten.
Etwas Gutes hat sich durch Corona für den Literaturherbst ergeben. Seit 2020 werden Lesungen des Festivals auch im Streaming übertragen. Sartorius habe das Sponsoring gleich für fünf Jahre übernommen. Jedes Jahr werde das Online-Angebot besser angenommen, zeigt sich von Estorf zufrieden. Viele nutzten dieses Angebot nicht ausschließlich, sondern als bereichernde Ergänzung – zu ausgewählten Veranstaltungen gingen sie live, um möglichen Terminballungen zu entkommen, verfolgten sie andere Lesungen am Computer.
Weil man in 62 gestreamte Lesungen bis in den November reinschauen könne, seien sie gut in den persönlichen Zeitplan einzupassen, meint von Estorf. So versteht sie das Streaming nicht als Konkurrenz, sondern als Mehrwert im Literaturherbst. Schließlich sei es doch etwas anderes, live dabei zu sein und sich nach der Lesung das Buch vom Autor signieren zu lassen. Studierende mit dem Kulturticket können das Streaming kostenlos nutzen.
Viele Menschen aus der Region verschenkten das Online-Ticket an Freunde und Verwandte, die weiter weg wohnten, in Deutschland oder sogar bis ins Ausland. Eine Frau habe sich den Zugang gekauft, um ihrer Freundin die Lesungen zeigen zu können, bei denen sie selbst live dabei war, erzählt Jähde.
Lesung von Neven Subotić in der FunSportHalle im Jahr 2022
Um jede Veranstaltung gut betreuen zu können, seien während der Festivalzeit 20 bis 30 Ehrenamtliche im Einsatz, sagt Jähde. Sie würden helfen, den Raum vorzubereiten, und dafür sorgen, dass auch hinter der Bühne alles passe. Auch an der Abendkasse, beim Einlass oder bei der Betreuung des Signierens könnten sie hilfreiche Dienste leisten. Dass viele jedes Jahr wieder dabei sind, zeigt: Auch sie freuen sich auf eine spannende Zeit. Die Eröffnung wird am Freitag, 24.10., um 21 Uhr mit einem Eröffnungsempfang im Festivalzentrum im Kunsthaus Göttingen gefeiert.
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Göttinger Literaturherbst
Ein Fest der Gegenwartsliteratur
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