Existenz in Auflösung

Premierenrezension zu »Bucket List« im Deutschen Theater

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Was bleibt übrig, wenn man sich selbst komplett vergessen hat? Wer ist man ohne seine Erinnerungen? Das junge Start-Up Zeitgeist verspricht in diesem Zustand Seelenfrieden und bietet seinen Kund:innen einen erlösenden Ausweg: das Vergessen. Mit diesem dystopischen Szenario beschäftigen sich Yael Ronen und Shlomi Shaban in ihrer musikalischen Produktion „Bucket List“, welche am 22. März im Deutschen Theater Göttingen Premiere feierte. 

Erzählt wird die Geschichte von Robert (Leonard Wilhelm), einem Journalisten, Familienvater und auch einstigem Ehemann, welcher seit dem Einsatz in einem Kriegsgebiet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Die Löschung seiner traumatischen Erinnerungen soll Heilung bringen, doch kommt die Behandlung mit gravierenden Nebenwirkungen. Heimgesucht von eigenen und fremden Erinnerungen, unfähig, diese zuzuordnen, beginnt eine Expedition durch die Psyche, die Robert und das Publikum mit den menschlichsten aller Gefühlen konfrontieren. Im Spannungsfeld von hoffnungsvoller Sehnsucht und angsterfülltem Widerwillen wird klar: Es gibt kein Entrinnen vor der Realität, die hier im Stück, gespielt von Gaby Dey, als omnipräsenter Akteur inszeniert wurde. 

Um die fragmentarische, trugvolle Erinnerungswelt des Protagonisten darzustellen, setzt das Stück simultan und komplementär unterschiedlichste Medien des Theaters ein. So entsteht eine Gleichzeitigkeit von Szenen wiederauftauchender Erinnerungen zwischen dem Robert der Vergangenheit (Volker Muthmann) und seiner Ex-Frau Clara (Tara Helena Weiß), welche aber auch immer wieder umschlossen sind von den vielen dynamischen Musikeinlagen, die dem Stück eine besondere, avantgardistische Extravaganz verleihen. 

Denn hier treffen die unterschiedlichsten Stile, darunter Jazz, Pop und Klassik, aufeinander und schaffen ein Gesamtkonzept künstlerischer Unkonventionalität. Dabei sind nicht nur die Sänger:innen auf der Bühne präsent, sondern auch die Band selbst, welche aus Klavier (Johannes Mittl), E-Gitarre und Violine (Jens Nickel), Schlagzeug (Simon Seifert) sowie Kontrabass und E-Bass (Marla Stier) besteht, ist live auf der Bühne präsent und trägt damit zur markanten Simultanität des Stücks bei. 

Aber nicht nur Schauspiel und Musik treffen aufeinander, sondern auch Tanz und Choreographie mischen sich unter das Szenenspiel. Die Tänzer:innen Tirza Ben Zvi, Germán Hipolito Farias, Paweł Malicki mediieren mit ihren andersweltlich choreographierten Bewegungen die konstituierenden Erfahrungen und Emotionen von Liebe, Kindheit und Rausch, wobei sie dies in einer Intensität transportieren, die die propagierte Versuchung des Vergessens jener Gefühle existenziell infrage stellt.

Gedanken und Gefühle sind normalerweise immateriell und nicht greifbar. Doch durch die intelligente Inszenierung der Regie (Aureliusz Śmigiel und Valentí Rocamora i Torà) erwachen sie in »Bucket List« zum Leben. Denn obwohl sich zu jedem Zeitpunkt ganze elf Darsteller:innen im Bühnenraum befinden, wirkt die Platzierung dieser über das ganze Stück hinweg exakt koordiniert und hochgradig durchdacht. Alle Darstellenden sind eingesetzt wie heimsuchende Gedanken, nicht immer vordergründig, aber doch immer irgendwie präsent. 

Diese experimentelle, gleichzeitig aber absolut stimmige Konzeption gelingt unter anderem so hervorragend dank des szenisch kraftvollen Bühnenbilds von Jósef Halldórsson. Auf einer Drehbühne ragt ein kreisförmiges Gitter in die Höhe, das die Mitglieder der Band in seiner Mitte beherbergt. Die Kulisse erinnert an einen Käfig, eisern und monumental, und visualisiert auf dramatische und vehemente Art und Weise das Gefangen-Sein in der eigenen Gedankenwelt. Und so wird sie auch von der Regie eingesetzt. Mal steht die Bühne still und dient als Schauplatz einer Erinnerung, mal rotiert sie und wirkt wie ein verfolgender, unaufhaltsamer Gedankenstrom. Besonders eindrücklich und memorabel ist dabei, dass jeder Teil der Produktion harmonisch-vernetzt ineinandergreift, während eigentlich strukturlose Zerrüttung und desorganisierte Fragmentierung der Gegenstand der Inszenierung sind. 

Die intensiven und allzu menschliche Erfahrungen, die das Stück durch seine Multimedialität bietet, kumuliert durch seine verwegene musikalische Inszenierung unter der musikalischen Leitung von Johannes Mittl. Begonnen wird mit dem Lied „War Sings“ und beendet wird das Stück durch den Titel „Never Stop“, was im  Angesicht der fragmentarischen Zerrüttung eine lineare Kohärenz schafft. Krieg und Trauma können den Geist bis zu dem Moment vergiften und krank machen, an dem der Mensch sich lieber von seiner Identität trennt, als weiter mit den entsprechenden Erfahrungen leben zu müssen. Aber das Stück zeigt einen anderen Weg auf. Im großen Finale mischen sich die Darsteller:innen unter das Publikum und sehen ebenfalls zu, wie das Licht auf der Bühne ausgeht. Dabei entsteht eine symbolische Moral: bei der unmittelbaren Konfrontation mit Realität und Zeitgeist sind es Zusammenhalt und Gemeinschaft, die jeder Erfahrung standhalten. Statt zu fliehen, geht es darum, alles zu fühlen und alles mitzunehmen. Keine Scheu haben, aber dafür immer eine volle Bucket List. 

Während schon zwischendurch im Stück immer wieder Applaus aufklang, war spätestens nach dem Finale kein Halten mehr. Das atmosphärische Stück, seine vielseitig talentierten Darsteller:innen und alle weiteren Mitwirkenden wurden mit einer nicht enden wollenden Standing Ovation gefeiert und bejubelt.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Verfasser:in

Antonia Fiege

Journalistin und Autorin beim Kulturbüro Göttingen

Im Artikel genannt

Im Artikel genannt
Bild
Szenenbild aus Bucket List
Aufführung

Bucket List

Yael Ronen und Shlomi Shaban

Eine musikalische Produktion Eines Morgens wacht er auf und weiß nicht mehr, wer er ist: Wie heißt er, was für ein Leben lebt er, welche Geschichte(n) hat er? Mit der Zeit und mit Musik entfalten sich Beziehungen und Erinnerungen, erscheinen Bilder und Situationen, tauchen Bekanntes und Unbekanntes...

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